Der umstrittene Bundeskanzler Dr. Kurt Georg Kiesinger.
Baden-Württembergischer Ministerpräsident und späterer Kanzler.

Kurt Georg Kiesinger war ein deutscher Politiker (CDU), von 1958 bis 1966 Ministerpräsident von Baden-Württemberg, von 1966 bis 1969 dritter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und von 1967 bis 1971 Bundesvorsitzender der CDU. Kiesinger war der erste deutsche Bundeskanzler, der mit einer Großen Koalition regierte. In seine Amtszeit fielen die Einführung der Notstandsgesetze und die Hauptphase der Außerparlamentarischen Opposition. Aufgrund seiner früheren NSDAP-Mitgliedschaft war er umstritten.

Diskussion über Kiesingers NS-Vergangenheit

Vor allem die Studentenbewegung, aber auch erhebliche Teile der Bevölkerung sahen in Kiesinger ein Symbol unbewältigter deutscher Vergangenheit. Günter Grass veröffentlichte 1966 in der FAZ einen offenen Brief an Kiesinger, dieser solle nicht Kanzler werden. Der prominente und eher dem konservativen Lager zugerechnete Philosoph Karl Jaspers und seine Frau gaben aus Protest gegen Kiesingers Kanzlerschaft ihre deutschen Pässe ab und wurden Staatsbürger der Schweiz.

Kiesinger nach seiner Ohrfeige von Beate Klarsfeld.

Ein weiterer prominenter Kritiker war Heinrich Böll. Die Kritik gipfelte in einer Ohrfeige, die Beate Klarsfeld Kiesinger am 7. November 1968 auf dem CDU-Parteitag in Berlin verabreichte. Klarsfeld, die Ehefrau eines Franzosen, dessen Vater von den Deutschen während des Nationalsozialismus ermordet worden war, gab an, sie hätte auf Kiesingers NS-Vergangenheit hinweisen wollen, die der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt sei, und erhielt für die Tat eine Gefängnisstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. In neueren Biographien wird Kiesinger von Vorwürfen, ein überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein, größtenteils entlastet. Allerdings gilt Kiesinger bis heute vor allem im linken Lager als prominentes Beispiel für eine unvollständige Aufarbeitung der deutschen Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus. Beispielsweise auf einer Pressekonferenz 2005 unterstellte Gregor Gysi den Abgeordneten von CDU und FDP - mit Anspielung auf Kiesinger - Scheinheiligkeit, als diese Lothar Bisky für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten ablehnten.

Was war Kiesinger unter den Nationalsozialisten?

Im Februar 1933 war er Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnummer 2633930). Er trat nicht in den Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund ein und trat bis 1940 trotz 1934 abgeschlossenem Assessorexamen nicht in den Staatsdienst ein. Stattdessen begann er eine Tätigkeit als Repetitor und Rechtsanwalt, was ihm ein solides Auskommen ermöglichte.

Als er im Jahr 1940 seinen Gestellungsbefehl erhielt, entschloss er sich, um dem Dienst in der Wehrmacht zu entgehen, eine Stellung im Reichsaußenministerium unter v. Ribbentrop anzunehmen. Dort stieg er bis zum stellvertretenden Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung auf, die für die Überwachung und Beeinflussung des ausländischen Rundfunks zuständig war. Unter anderem war er für die Verbindung zum Reichspropagandaministerium von Joseph Goebbels zuständig, mit dem seine Abteilung Kompetenzstreitigkeiten hatte. Kiesinger blieb bis 1945 Mitglied der NSDAP.

Im weiteren Verlauf seiner Karriere wurde seine zumindest anfängliche Zustimmung zur Machtübernahme der Nationalsozialisten sowie seine Karriere im Staatsapparat ab 1940 kritisiert. Er selbst beschrieb seine Unterstützung des NS-Regimes später als "nicht aus Überzeugung, nicht aus Opportunismus", wichtige Ziele der Bewegung seien ihm nicht verwerflich erschienen. Den Judenhass der Bewegung habe er nicht geteilt, aber auch "nicht als ernsthafte Gefahr" betrachtet. Für ihn sprach ein 1966 aufgetauchtes Protokoll des Reichssicherheitshauptamtes der SS aus dem Spiegel-Archiv, in dem es heißt, Kiesinger habe während seiner Tätigkeit in der rundfunkpolitischen Abteilung antijüdische Aktionen gehemmt und verhindert.

Weil Adenauer ihn als Minister nicht wollte,
ging Dr. Kurt Georg Kiesinger, als Ministerpräsident nach Baden-Württemberg.        

Kiesinger galt als exzellenter Redner. In den 1950er-Jahren unterstützte Kiesinger die Außenpolitik Adenauers. Seine Debatten mit dem ebenso redegewandten Fritz Erler von der SPD schrieben Parlamentsgeschichte. Er war einer der "Starredner" des Bundestags. Adenauer machte Kiesinger jedoch nicht zum Minister. Dies war einer der Gründe dafür, dass Kiesinger 1958 als Ministerpräsident nach Stuttgart ging.

Vom 17. Dezember 1958 bis zum 30. November 1966 war er Ministerpräsident von Baden-Württemberg als Nachfolger von Gebhard Müller, der als Präsident an das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe ging. In jener Zeit gehörte Kiesinger auch als Abgeordneter dem Landtag von Baden-Württemberg (1960-1966) an. Als Universitätsgründer (Konstanz, Ulm) ging Kiesinger in die Landesgeschichte ein. Außerdem trug er wesentlich zur inneren Stabilisierung des jungen, erst 1952 gegründeten Landes Baden-Württemberg bei.

Schon als in den Jahren 1950/1951 um die Gründung des Südweststaates gekämpft wurde, war Kiesinger ein entschiedener und entscheidender Vorkämpfer des neuen Landes, das aus drei Nachkriegsländern im deutschen Südwesten gebildet wurde. Trotzdem wurde es allgemein als überraschend empfunden, dass Kiesinger 1958 die Bundespolitik verließ. Ein wichtiger Grund für seinen Wechsel war, dass er nach der Bundestagswahl 1957 in Bonn keinen Ministerposten bekam und er damit in seinem Amt als Ministerpräsident eine Möglichkeit sah, seine Fähigkeiten auf höherer Ebene als der eines Bundestagsabgeordneten unter Beweis zu stellen.

Dr. Kiesinger Bundeskanzler von 1966 bis 1969.
Dr. Kiesinger wird als dritter Bundeskanzler vereidigt.

Am 27. Oktober 1966 zog die FDP nach einer Auseinandersetzung über den Bundeshaushalt ihre vier Minister aus der Regierung von Ludwig Erhard zurück. Obwohl Erhard noch immer Bundeskanzler und auch CDU-Vorsitzender war, beschloss die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, einen neuen Kanzlerkandidaten zu wählen, der die Regierungskrise überwinden sollte. Konrad Adenauer lehnte Kiesinger wegen "mangelnder Durchsetzungsfähigkeit" ab. Der "Alte" hatte an jedem etwas auszusetzen.

Am 10. November setzte sich Kiesinger im dritten Wahlgang gegen den damaligen Bundesaußenminister Gerhard Schröder (CDU) und den CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel durch. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier hatte zugunsten Kiesingers verzichtet. (das war auch gut so, denn Am 23. Januar 1969 legte Gerstenmaier das Amt als Bundestagspräsident nieder, nachdem er wegen der Inanspruchnahme von Wiedergutmachungsleistungen in öffentliche Kritik geraten war).

Kiesinger verhandelte zwecks Regierungsbildung zunächst mit dem bisherigen Koalitionspartner FDP; dies wurde am 25. November für gescheitert erklärt. Stattdessen konnte Kiesinger am 26. November die Einigung zu einer großen Koalition mit der bisherigen Oppositionspartei SPD vermelden. Diese überraschende Entscheidung besiegelten Kiesinger und der SPD-Vorsitzende Brandt mit einem etwas zaghaften Händedruck vor den berichtenden Journalisten. Am 30. November trat Erhard zurück.

Dr. Kiesinger als "wandelnder Vermittlungsausschuss" gefordert.
Nach zähen Verhandlungen hatte Dr. Kiesinger sein Kabinett endlich zusammen.

Trotz interner Reibereien dauerte die Koalition nicht nur bis zu den Wahlen 1969 fort, sondern konnte auch fast alle angekündigten Vorhaben in ihren drei Jahren umsetzen. Darunter waren so umstrittene und lang umkämpfte Vorhaben wie die Notstandsgesetze. Weitere Neuerungen im Rahmen seiner Kanzlerschaft waren die Einigung über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, das Stabilitätsgesetz und die Schaffung der Gemeinschaftsaufgaben. Einzig die geplante Einführung des Mehrheitswahlsystems für die Bundestagswahlen scheiterte an Meinungsverschiedenheiten zwischen den Koalitionspartnern, vor allem am Widerstand der SPD-Basis.

Als eigentliche Vorantreiber der Regierungsarbeit galten die Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt (SPD) und Rainer Barzel (CDU/CSU). In der Öffentlichkeit waren neben dem Kanzler und dem Außenminister die Minister Karl Schiller und Franz Josef Strauß ("Plisch und Plum") besonders bekannt. Die konjunkturelle Erholung der Wirtschaft ermöglichte ihnen die Sanierung des öffentlichen Haushalts. Unter Kiesinger bereitete Willy Brandt von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt seine zukünftige "Neue Ostpolitik" vor. 1968 gab Kiesinger vor dem Bundestag den ersten "Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland" ab und begründete damit eine Tradition, die bis zur Wiedervereinigung 1990 hielt. 1967 wurde der Kanzler auch Parteivorsitzender der CDU und blieb dies bis 1971. Mit dem Heranrücken der Bundestagswahlen verschlechterte sich das Koalitionsklima. Hauptstreitpunkt wurde die Frage einer möglichen DM-Aufwertung, die Wirtschaftsminister Schiller forderte, Finanzminister Strauß und Kanzler Kiesinger dagegen entschieden ablehnten.

Staatsbesuch der Queen in Deutschland.
Präsident Nixon in Berlin.
US-Präsident Nixon mit dem Regierenden Bürgermeister Schütz und Kiesinger in Berlin.
Der Noch-Bundeskanzler auf Wahlreise
Gebracht hat sie ihm nicht viel. Brandt wurde vierter Kanzler.

Die Bundestagswahl 1969 brachte für Kiesinger eine schwere Enttäuschung. Die CDU/CSU war zwar wieder stärkste Kraft (46,1 %) geworden und verfehlte nur knapp die absolute Mehrheit, aber Sieger war die SPD (42,7 %), die zusammen mit der FDP (5,8 %) eine neue Regierung bilden konnte. Kiesinger versuchte noch, die FDP von der Bildung der sozialliberalen Koalition abzuhalten, indem er sie mit einer langfristigen Absprache ködern wollte, die auch eine Garantie gegen jegliche Wahlrechtsänderungen enthalten sollte. Als diese Strategie scheiterte und die FDP eine Koalition mit der SPD einging, zeigte er sich enttäuscht und kündigte an, die CDU werde versuchen, zukünftig aus allen Landtagen "diese Partei herauszukatapultieren, die sich jetzt als Schlüsselfigur in der Bundesrepublik betätigt." Mit diesem Verhalten schädigte er sein Ansehen erheblich. Als Kiesinger 1969 die Kanzlerschaft an Willy Brandt abgeben musste, war seine Amtszeit mit knapp drei Jahren die kürzeste aller bisherigen Bundeskanzler. CDU/CSU mussten erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik in die Opposition. Die Oppositionszeit dauerte dreizehn Jahre.

Misstrauensantrag der Unions-Fraktion gegen Willy Brandt scheitert.
1971 wurde Kiesinger als CDU-Bundesvorsitzender von Rainer Barzel abgelöst.

1971 wurde Kiesinger als CDU-Bundesvorsitzender von Rainer Barzel abgelöst. 1972 begründete er im Bundestag den konstruktiven Misstrauensantrag der Unions-Fraktion gegen Willy Brandt. Das darauf folgende konstruktive Misstrauensvotum gegen Brandt mit dem Ziel, den damaligen CDU-Vorsitzenden Rainer Barzel zum Kanzler zu wählen, blieb ohne Erfolg. Zwei Stimmen fehlten Barzel zur Kanzlerschaft. In der achten Legislaturperiode (1976-1980) war Kiesinger nach seinen Parteifreunden Ludwig Erhard und Johann Baptist Gradl der drittälteste Abgeordnete des Bundestages. Danach zog sich der Ehrenvorsitzende der CDU aus der Politik zurück. Von den geplanten Memoiren wurde nur der erste Teil (bis 1958) fertig ("Dunkle und helle Jahre"). Die wichtige Zeit als Ministerpräsident und Bundeskanzler fehlt.

Dr. Kiesinger stirbt im Alter von fast 84 Jahren.
Das Familiengrab der Kiesingers in Tübingen.

Nach seinem Tod im Alter von fast 84 Jahren wurde Kiesinger in Stuttgart mit einem Requiem in der Domkirche St. Eberhard und einem Staatsakt auf dem Schlossplatz geehrt. Seine letzte Ruhestätte fand der dritte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland auf dem Tübinger Stadtfriedhof. (Zusammengestellt von MGB.)

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