Türme und Fassaden

Auf der Grand-Place (Bild unten) hat sich ein umfangreiches Kapitel europäischer Geschichte abgespielt. An einer Seite liegt das wunderschöne gotische Rathaus. Schon Karl V., in dessen Reich die Sonne nie unterging, hat aus einem seiner hohen Fenster auf die Grand­Place geblickt. Ihr Prunkstück aber ist das sogenannte "Brothaus". In ihm verbrachten die Grafen Egmont und Hoorn ihre letzte Nacht. Am nächsten Morgen wurden sie davor geköpft. Auf französisch heißt es "Mai­son du Roi", Haus des Königs, obwohl nie ein Monarch darin wohnte.

Heute ist das Königshaus Stadtmuseum. Ein Zimmer ist für die Garderobe des prominentesten Brüsseler Bürgers reserviert. Seit 1699 verrichtet Manneken Pis hinter dem Rathaus an der Ecke der Stoofstraat sein fremdenverkehrsförderndes Geschäftchen. Zu besonderen Anlässen bekommt der 50 cm große pausbäckige Bronzejunge einen der 300 Anzüge und Uniformen angezogen, die ihm prominente und unbekannte Gönner schenkten. Schon König Ludwig XV. und Napoleon stifteten Orden und Uniformen für Mannekens Kleiderschrank. Am meisten freuen sich die Brüsseler, wenn sie ihn in Mickeymaus-Montur sehen. Eine ganze Industrie lebt von dem kleinen Kerl. Neben den Spitzen ist er Brüssels größter Verkaufsschlager. Warum der Kleine dort steht, weiß kein Mensch. Es gibt unzählige Sagen darüber. Unter anderem heißt es, er habe auf seine spezielle Art einst die Zündschnur einer Bombe gelöscht.

Brüssels Stadtväter sorgten dafür, daß die Grand-Place vor unseren Enkeln im gleichen Glanz erstrahlen wird wie heute. 1960 wurde sie feierlich zur "heiligen Insel" erklärt. Das bedeutet, ihre Häuser dürfen niemals verändert oder abgerissen werden. Für die übrige Stadt gilt das nicht. Seit Brüssel Europas heimliche Hauptstadt ist, wird hier ständig abgerissen und neu aufgebaut. Die Brüsseler setzen damit nur die Tradition des belgischen Königs und Lebemanns Leopold II. fort. Er war der größte Bauherr der belgischen Hauptstadt. Während seiner Regierungszeit von 1865-1909 gewann er nicht nur den Kongo für Belgien, sondern schuf auch den Hochseehafen, der Brüssel über Antwerpen mit dem Meer verbindet. Ihm verdankt es die Millionenstadt auch, daß sie heute nicht im Verkehr erstickt. Der umstrittene Monarch baute in Brüssel - symbolisch auf dem Galgenberg - auch das angeblich größte Gebäude des 19. Jahrhunderts, den riesigen Justizpalast. Unverfroren trägt der Bau seine neoklassizistische Häßlichkeit zwischen modernen Glaspalästen zur Schau. Als man mit dem Riesenbau begann, mußten Tausende kleiner Leute weichen.

Man muss nun wirklich nicht lange raten, wo sich meine zukünftige Frau und ich gerade befinden, nämlich auf dem Grande-Place, wo die Häuser niemals verändert oder gar abgerissen werden dürfen.

Manneken Pis und Atomium

Heute gibt es fast nur noch um die Grand-Place jenes Gewimmel schmaler mittelalterlicher Gassen, das für das Brüssel von einst so typisch war. Sie tragen nahrhafte Namen wie Brot- und Fleischerstraße, Hering- oder Butterstraße. Ein unscheinbares kleines Restaurant reiht sich an das andere. Eines haben alle gemeinsam: man ißt hier hervorragend. Die belgische Küche ist zwar nicht so fein wie die französische, aber sie hat es in sich. Meister Brueghel hat ihren derben Genüssen auf seinen Bildern ein Denkmal gesetzt. An belgischen Küchenfreuden haben auch die vielen Nicht-Brüsseler nichts auszusetzen. Seit die NATO 1967 von Paris hierherzog, ist Brüssel so etwas wie die Hauptstadt Europas geworden. Jeder fünfte Bewohner der Stadt ist Ausländer. Mehr als 250 internationale Organisationen haben hier ihre Zelte aufgeschlagen.

Brüssel ist allemal eine Reise wert, jedoch muss man viel Zeit und noch mehr Geld mitbringen, um alle Sehenswürdigkeiten dieser, wie schon erwähnt, herzförmigen Stadt, die selbst ein goldenes Herz hat, sehen zu können. Hier waren wir etwas essen, denn das Bummeln durch die City machte Hunger.

Die Benelux, die Belgien, die Niederlande und Luxemburg umfassende Europäische Wirtschaftsunion, ist hier ebenso zuhause wie die Euratom (Europäische Atomgemeinschaft) und die EU (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft). Belgiens einst so gemütliche Hauptstadt ist heute das größte Bürokratenzentrum der Welt. Im Sog der internationalen Behörden siedelten sich unzählige ausländische Firmen und Organisationen an. Bis 1969 machten allein rund 750 amerikanische Firmen in Brüssel Filialen auf, 200 Staaten entsandten diplomatische Vertretungen. Die Stadt baute den Zuwanderern ein supermodernes eigenes Stadtviertel: die "Cite Européenne".

Brüssels Geschäftsleute nutzten den Aufschwung auf ihre Weise. Ob Kaufmann, Versicherung, Blumenladen ­ mit der Vorsilbe "Euro" läßt sich gutes 'Geld verdienen. Nur mit den Euro-Ehen klappte es noch nicht so recht. Bei den internationalen Behörden trifft man zwar die schönsten und tüchtigsten Mädchen Europas. Aber die weiblichen Angestellten der EU klagen über Männermangel. Auf zehn Junggesellen kommen laut Euro-Statistik in Brüssel sechzig unverheiratete Mädchen.

Das Paradoxe an dieser Stadt, die so viele Nationen beherbergt, ist, daß sie selbst vom Nationalitätenstreit zerrissen ist. Die Belgier, sagt man, seien das romanischste unter den germanischen und das germanischste unter den romanischen Völkern. Wie in ganz Belgien klaffen auch in Brüssel scheinbar unüberbrückbare Gegensätze zwischen Flamen im Norden und Wallonen im Süden. Belgiens ursprünglich rein flämische Hauptstadt ist heute zu 70 % französischsprachig. Die flämischen Nationalisten nennen das "von den Franzosen erobert".

Für sie ein Grund, immer wieder auf die Straße zu gehen und erbittert zu protestieren. Hinter dem Sprachenstreit stecken wirtschaftliche, politische und soziale Gegensätze. Sie sind so kompliziert, daß ein Ausländer sie auch in vier Wochen nicht begreift. Witzbolde schlugen vor, als Sprache doch wieder zum sogenannten "Bruxellois" überzugehen. Diese seltsame Mischung aus Flämisch und Wallonisch wird heute nur noch in den "Marolles" gesprochen, dem ältesten und pittoreskesten Viertel der Stadt.

Die heißen Auseinandersetzungen werfen ihre Schatten bis ins Brüsseler Parlament. Es gilt als selbstverständlich, daß der belgische Ministerpräsident sowohl französisch als auch flämisch spricht. Aber nicht jeder Minister kann es. Daraus entsteht die in der ganzen Welt wohl einmalige Situation: Bei Kabinettsitzungen muß ein Dolmetscher dabei sein.

Auch die Stadtverwaltung ist ein merkwürdiger Anachronismus. Genau besehen ist Brüssel keine autonome Einheit, sondern setzt sich aus 19 verschiedenen Städten und Gemeinden, jede mit einem eigenen Bürgermeister, eigener Gemeindeverwaltung und sogar Polizei zusammen. So gibt es allein sechs verschiedene Feuerwehren. Das kann zu einem heillosen Durcheinander führen. Als 1967 ein großes Warenhaus abbrannte, bei dem Hunderte von Menschen umkamen, rief Brüssel alle Feuerwehren zu Hilfe. Doch sie konnten nicht viel ausrichten. Jede hatte andere Schlauchanschlüsse. Die Stadt, in der man sich so viel Mühe gibt, Europa zu ordnen, könnte selbst ganz gut eine ordnende Hand gebrauchen.

Wir verliessen Brüssel mit etwas Wehmut im Herzen, denn die Gastfreundschaft gerade dieses Völkchens, welches unter der deutschen Besatzung so sehr gelitten hat, ließ man uns, respektive mich, der ich ja Deutscher bin und auch Deutsch gesprochen habe, nicht spüren.

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