London am späten Abend
London am Morgen

Zwei von drei Menschen, die London sagen, meinen noch heute das London Oliver Twists. Fünf Generationen lang haben wir unser Bild von der britischen Hauptstadt von einem Mann bezogen ­ von Charles Dickens. Er hat dieses "Monstrum von Stadt" gehasst, geliebt und gekannt wie kein anderer. Mit fotografischer Präzision schilderte er seine Slums, seinen Schmutz, Elend und Nebel. Der englische Dichter Percy Bysshe Shelley schrieb damals: "Ich stelle mir die Hölle als eine grosse Stadt vor die viel Ähnlichkeit mit London hat."

CITY MIT 99 TÜRMEN

Nicht nur für Dickens war London die Stadt der schärfsten sozialen Kontraste. In keiner anderen Stadt ist die Adresse auch heute noch so wichtig wie in London. An ihr kann man ablesen, in welcher Welt ein Londoner lebt. Eastend, das ist die Welt der Dockarbeiter und osteuropäischen Emigranten, die arm geblieben sind. Kensington: Welt der Aristokraten, mit Dienerschaft im Keller und Bentley in der Garage. Hampstead: die gute Stube der Neureichen. Chelsea: Tummelplatz der Künstler, der verrückt verkleideten Mädchen, Stadtteil der exzentrischen Boutiquen. Der reichste und zugleich älteste und wichtigste Teil Londons ist noch immer die City. Der alte Haudegen Blücher stand an der Reling seines Schiffes auf der Themse, als er zum erstenmal die 99 Türme der "City of London" sah. Er pfiff durch die Zähne und sagte zu seinem Adjutanten: "Welch ein Ort zum Plündern!" Auf der winzigen Fläche von 2,589 Quadratkilometern drängen sich 49 Kirchen, alle großen Banken und Versicherungsgesellschaften Englands, mehr als die Hälfte der im Baedeker ausgewiesenen Sehenswürdigkeiten Londons.

Seit Mai 1859 zählt der tiefe, dröhnende Schlag von Big Ben die vollen Stunden. Der Klang ist in der ganzen Welt bekannt, nicht zuletzt, weil die BBC ihn über ihre Auslandsdienste in die entferntesten Winkel der Erde verbreitet. Ein Mikrofon im Uhrturm überträgt den Stundenschlag live, lediglich im Zweiten Weltkrieg mußten die Briten mit einer Schallplattenaufnahme vorlieb nehmen. Die Regierung wollte damit verhindern, daß Hitlers Abhördienste aus der Klangqualität der Glocke Rückschlüsse auf das aktuelle Wetter in London hätten ziehen können. Noch heute beginnen die wichtigsten Radionachrichten der BBC mit dem berühmten Ding-Dong des Westminster-Schlags.

Sitz des britischen Parlaments; bis zur Zeit Heinrichs VIII. Residenz der britischen Monarchen. Der alte Palast brannte 1834 aus, der jetzige neugotische Prachtbau wurde 1852 eingeweiht. Nach Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg 1950 wiederaufgebaut. Wenn das Unterhaus tagt, weht der Union Jack auf dem Victoria Tower. Die Besuchergalerien im Unterhaus (House of Commons) und Oberhaus (House of Lords) sind für die Öffentlichkeit zugänglich.(Bitte am St. Stephen's Entrance anstellen). Besonders im Sommer lange Schlangen. Der Hauptandrang ist am späten Nachmittag allerdings vorbei.

Mehr Geschichtliches über den Tower of London:

Tower Hill. Erbaut von Wilhelm dem Eroberer; diente bis ins 17. Jh. als königlicher Palast, dann bis 1820 als Gefängnis. Heute sind hier die Kronjuwelen zu besichtigen und die traditionell gekleideten Beefeater. Sie achten auf die Raben, die im Tower leben. Über 900 Jahre lang diente der Tower of London 8 in erster Linie als Gefängnis für all jene, die sich den Unwillen des jeweiligen Monarchen zugezogen hatten. Viele Insassen kamen nicht mehr lebend heraus, grausame Foltermethoden waren üblich, und am nahegelegenen Tower Hill fanden zur Unterhaltung des Volkes öffentliche Hinrichtungen statt. Trotz der blutigen Geschichte strömt alle Welt fasziniert in den Tower; 25 Mio. Besucher werden hier alljährlich gezählt, lange Schlangen vor den Kassen sind an der Tagesordnung.

Es empfiehlt sich, im Tower an einer der kostenlosen Führungen teilzunehmen, die alle halbe Stunde hinter dem Eingang beginnen. Die berühmten Wächter des Tower, die Beefeaters, verdanken ihren Namen nicht der Vorliebe für britisches Rindfleisch. Vielmehr soll er eine Verballhornung des französischen Ausdrucks Buffetier sein, was königlicher Mundschenk bedeutet. Offiziell heißen die 42 Herren in ihren prächtigen rot-goldenen Uniformen (die auch auf dem Tower-Gelände wohnen) Yeoman Warders. Bei den Führungen tragen sie meistens schlichte blaue Anzüge. Der Tower, oder zumindest ein Teil davon, ist eines der ältesten Relikte aus den Anfangsjahren des römischen Londinium. Reste aus dieser Zeit kann man auf dem Trinity Square entdecken. Im Jahr 1066 zog William the Conqueror in die Stadt und ließ 1078 aus sogenanntem Caen-Stein den White Tower bauen. Im Waffensaal und in der St John's Chapel, der ältesten Kirche Londons, kann man den normannischen Einfluß gut erkennen. Ein Wächter des Tower (Beefeater genannt) zeigt uns die Aussicht von seiner Wohnung aus, das war und blieb mal die Ausnahme. Aber gegen ein etwas grösseres Trinkgeld ist das schon machbar. Bild unten.

Die vier gotischen Türme am White Tower erhielten ihre Kuppeln erst im 17. Jh. Lange vorher, ab Mitte des 13. Jh., diente der White Tower schon als königlicher Palast, entstanden der innere und der äußere Befestigungswall. Henry III. (1216-72) ließ das Gebäude weiß anstreichen, worauf der erste Tower seinen Namen erhielt. Unter Henry VIII. wurde die burgähnliche königliche Residenz erweitert. Um 1540 entstanden die Fachwerkhäuser an der kleinen Grünfläche, Queen's Houses genannt. Seinen Grusel-Ruf erlangte der Tower jedoch erst, als er sich von einer königlichen Residenz zu einem königlichen Gefängnis entwickelt hatte. Wer bei der Majestät in Ungnade gefallen war und in Westminster vor Gericht gestellt wurde, den schaffte man nach der Verurteilung per Boot auf der Themse zum Tower. Durch das Traitors' Gate, das Tor der Verräter, betraten die Häftlinge das Gefängnis.

Zu den prominentesten Insassen gehörte neben dem Schriftsteller Geoffrey Chaucer und dem Bischof von Rochester, John Fisher, auch Thomas Morus. Er wurde im Bell Tower festgehalten und auf Befehl von Henry VIII. hingerichtet, weil er sich (wie Bischof Fisher) geweigert hatte, den König als Oberhaupt der Kirche anzuerkennen. Es galt als ausgesprochenes Privileg, im Tower hingerichtet und anschließend in der 1210 errichteten Chapel of St Peter ad Vincula beigesetzt zu werden. (Bild oben). Am Wakefield Tower werden die schwarzen Raben des Tower regelmäßig mit Fleischstücken gefüttert. Das ist auch besser so: Die Legende will es, daß es mit London und der Monarchie vorbei wäre, sollten die Raben einmal wegfliegen.

In der "coolsten Stadt der Welt" tobt - wie überall - vor allem am Wochenende das Leben in den Pubs und Clubs. Die Londoner Szene zählt zu den schnellebigsten der Welt, und die Palette der In-Lokale ändert sich laufend. Manchmal genügt es, daß ein Club in "Time Out" erwähnt wird, und schon sucht sein bisheriges Publikum eine neue Wirkungsstätte. Die Presse hinkt der Straße notgedrungen immer hinterher. Buntes Treiben (auch auf der Straße) herrscht nachts insbesondere in Soho, rund um den Leicester Square, in Bayswater, Notting Hill Gate, Camden, Brixton und Chelsea. Discos heißen auf englisch Clubs, was etwas mit der Gesetzgebung zu tun hat, denn diese dürfen länger aufbleiben und länger Alkohol ausschenken.

An der Fleet Street in der City steht die Wiege aller bedeutenden Zeitungen. Hier erbauten die Römer ihre Stadt Londonium. Hier wurde 62 n. Chr. die Amazone Boadicea, die einen Aufstand gegen die Römer anzettelte, mit ihrer Armee niedergemacht. Zur Ruhe kommt sie nicht. Über ihrem Grab wurde vor 80 Jahren der Bahnsteig 13 der St. Pancras Tube Station gebaut.

Tagsüber drängen sich in der City schwarzberockt und melonengeschmückt eine halbe Million ehrbarer britischer Kaufleute. Die Königin hat hier nichts zu suchen, es sei denn, sie wird vom Lord Mayor, dem Bürgermeister der City, eingeladen. Von den zehn Millionen Londonern sind nur 5000 seine Einwohner: die Hausmeister der City. Vor 190 Jahren wohnten hier noch 160.000 Menschen. Heute pumpen die "tubs", die Untergrundbahnen, jeden Morgen die Menschenmassen aus den Vororten in die Stadt. Und jeden Abend lassen sie das Stadtzentrum menschenleer zurück.

Östlich von der City hütet der Tower die Schätze der Vergangenheit. Schätze der Gegenwart findet man in den vielen großen Einkaufsstraßen: "Alles, was es in London nicht gibt, gibt es überhaupt nicht." Vom Suaheli-Wörterbuch bis zu lebendigen Flamingos, wer sucht, wird es finden. Vor allem aber Antiquitäten. London hat rund 65 Kilo­meter Straßen nur mit Antiquitätengeschäften, Kunstgalerien, gehobenen Trödelläden. Kontraste bestimmen auch die Stimmungen Londons. In keiner anderen Stadt kann sich Häßlichkeit so schnell in Pracht verwandeln. Wenn sich der Nebel verzieht, im Frühling und Herbst, leuchten die großen Parks in durchsichtigem Grün, die vornehmen Kalksteinfronten wie altes Elfenbein. Dann glüht die Themse wie ein Feuerstrom. Ein Schauspiel, das englische Maler und Dichter immer wieder fasziniert hat.

Menschenunwürdige Slums, wie Dickens sie kannte, gibt es noch immer. Sie beherbergen das brennendste Problem der Zehnmillionenstadt: fast eine Million farbiger westindischer Einwanderer, viele arbeitslos, fast alle arm. Aber London wird sie integrieren. Das ist nur eine Frage der Zeit. "Diese Stadt bringt das Unvorstellbare zustande, englisch und kosmopolitisch zugleich zu sein", konstatierte der Journalist Rudolf Walter Leonhardt. Denn London ist keine Stadt, sondern eine Welt. Kein Volk der Erde, das nicht vertreten ist. In Wirklichkeit wird es nicht nur von acht, zehn Millionen Menschen bewohnt, sondern von vielen verschiedenen Stämmen und Völkerschaften, ja Nationen. Was zieht und zog die Völker der Erde, die Minderheiten und Verfolgten nach London? Bestimmt nicht die Aussicht auf ein angenehmes Leben. London ist laut, überfüllt, schmutzig. Und doch nennen es Ausländer ein "Wunderland der Möglichkeiten".

LONDON: STADTTEIL SOHO

Königin der Weltmeere, Hauptstadt der Welt, das war London gestern. Kalte, düstere Pracht, die frösteln ließ. Welthauptstadt ist es noch heute: der Briefmarken, Antiquitäten, Banken, Versicherungen - und neuerdings auch der Jugend. London ist jung geworden; im letzten Jahrzehnt hat es die steife Rolle "Kontor des britischen Empire" endgültig abgelegt. "Bei schönem Wetter kann man es fast für eine südliche Stadt halten", schwärmt ein Reporter, "überall Leben und Jugend." Die Pop-Bewegung, Aufstand der Jungen gegen das Establishment, schwappte Farbe in das triste Grau. Buckinghampalast, Houses of Parliament, die Lasterhöhlen von Soho - für die jungen Leute ist das "Opas London". Sie erfanden ein neues: Swinging London. Im Künstlerviertel brach das neue prickelnde Lebensgefühl aus. Vor allem Mary Quant und die Beatles brachten London zum Schwingen. In keiner anderen Hauptstadt wird Lebenskunst und Lebensgenuß heute so groß geschrieben wie hier. Im Rampenlicht schwingt London am stärksten, auf der Bühne, in der Mode, im Theater. Heute kommen ganze Flugzeugladungen von Touristen aus Paris, um "endlich mal was zu erleben" in London.

"Wenn es eine Stadt gibt, in der das Auffällige alltäglich ist und deshalb nicht auffällt, in der das Abnorme als normal geduldet wird, dann ist es London", schrieb Dieter Schröder. "Auch der Nervenkitzel, auf den es manchen Besuchern ankommt, wird prompt geliefert." Zur inneren Wandlung kommt die äussere. London wächst und wächst ­ zum erstenmal in seiner Geschichte auch in den Himmel. Schon können die Gäste des Londoner Hiltons die Königin beim Spazierengehen im Buckinghampark beobachten. In einem knappen Jahrzehnt sind damals - 1970, 300 Hochhäuser entstanden, schmale Finger aus Beton und Glas. Morgen wird London Wolkenkratzerstadt a la New York sein. Ein 45stöckiges Bankgebäude mitten in der ehrwürdigen City wird St. Paul'sCathedral als Wahrzeichen Londons ablösen. Und ein neuer Superhafen an der Themse soll das Abwandern der großen Tanker nach Rotterdam verhindern.

Der in aller Welt bekannte Spruch: "Venedig sehen und sterben dürfte für London gewiss nicht zutreffen - totz aller Sehenswürdigkeiten die es zu bieten hat. Dennoch hatten wir einen wunderschönen Aufenthalt in der britischen Hauptstadt und sagen ganz herzlich: Auf Wiedersehen London.

Die Carnaby Street, die auch von Peggy March besungen wird, war unsere letzte Station in London, denn alles konnten wir nicht sehen, geschweige denn hier posten. Wir hoffen, dass es euch dennoch gefallen hat und wir uns in Amsterdam wieder sehen werden.


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Unterwegs nach Amsterdam